Hilfe, mein Pferd spinnt! Der größte Irrtum der Reiterwelt

In der Welt der Pferde wird oft über die Bedeutung von Disziplin, Technik und Konsequenz gesprochen. Doch was ist mit der anderen Seite der Medaille? Ist es realistisch zu erwarten, dass der Mensch sagt und das Pferd tut, ohne jemals etwas infrage zu stellen? Ist es realistisch, als Mensch über das Pferd zu gebieten, ohne jemals selbst hinzuhören oder dem Pferd etwas zurückzugeben? Ich meine mit zurückgeben nicht, für die aufwändige Pflege des Pferdes oder für die Erfüllung seiner Grundbedürfnisse zu sorgen. Ich meine auch nicht, dem Pferd nach getaner Arbeit den Hals zu klopfen (mögen sie das überhaupt?), ein Leckerli zu geben, oder eine Schale Hafer extra hinzustellen, wenn es seine Sache gut gemacht hat. Ich meine „etwas zurückgeben“ im tatsächlichen Beziehungssinne, denn keine Beziehung ist gesund oder hat Bestand, wenn sie nur einseitig funktioniert.

Inmitten der Diskussionen um die richtigen Techniken, das richtige Futter, den besten Stall und die richtige Reihenfolge der Ausbildungsinhalte gerät ein ganz entscheidender Aspekt häufig in den Hintergrund: die Basis-Kommunikation und die Beziehung zwischen Mensch und Pferd.

Eine tragfähige Beziehung entsteht nicht, indem man ausschließlich spricht – am Pferd gleichzusetzen mit dem Geben und Einfordern von Kommandos und Hilfen – sondern sie entsteht vor allem durch aktives Zuhören, um sich einzufühlen, das Gegenüber zu verstehen und ihm ein gutes Gefühl zu geben. Darum heißt es 2-Wege-Kommunikation: beide haben das Recht, zu sprechen, aber auch die Pflicht, dem anderen zuzuhören. Eine konsequente 2-Wege-Kommunikation ist auch zwischen Pferd und Mensch der Schlüssel zu einer tiefen Verbindung, die Vertrauen, Respekt und Sicherheit fördert.

Der größte Irrtum der Reiterwelt

Ich glaube, genau an diesem Punkt liegt eines der größten Missverständnisse der Pferdewelt, und eine der größten Ängste von Pferdebesitzern, basierend auf einem alten Irrglauben: „Wenn mein Pferd merkt, dass ich es in Ruhe lasse und mit etwas aufhöre, wenn es sich sträubt/sein Unbehagen kundtut, dann ist das eine Belohnung fürs Pferd! Dann lernt es etwas Falsches/nutzt das aus/macht nie wieder mit!“ Viele Menschen haben auch gelernt: Das Pferd darf nicht mit etwas „davonkommen“ oder „durchkommen“. Dann hat der Mensch nämlich „verloren“, und das Pferd wird sich immer mehr gegen ihn auflehnen. Das ist eine tiefsitzende Angst in der Reiterwelt.

Und ja, das kann passieren: Wenn man in den falschen Momenten mit den falschen Dingen aufhört, wie zum Beispiel beim Reiten, wenn man die Hilfengebung aussetzt, obwohl das Pferd noch gar nicht reagiert hat. Dann lernt es durch negative Verstärkung, dass die Hilfe keine Bedeutung hatte, und das Nicht-Reagieren wird belohnt. Man erzeugt ein faules Pferd, das nicht zuhört und die Hilfen ignoriert.

Ein ganz anderer Fall jedoch – und das verwechseln sehr viele Pferdemenschen – ist es, wenn man mit etwas aufhört, was dem Pferd zu viel ist. Beispiele sind das Gewöhnen an Wasser oder Spray, wo das Pferd eindeutig sein Unbehagen oder gar Angst zeigt, oder – beim Reiten – wenn das Pferd an einer bestimmten Stelle nicht weiter möchte, wie zum Beispiel beim Durchqueren von Engstellen oder Pfützen. Hier nun stur weiterzumachen oder den Druck zu erhöhen, und zu sagen: du musst da aber durch, damit du siehst, dass da gar nichts ist – das wäre genau der falsche Weg. Denn das Pferd lernt dann: „Meinem Menschen ist es egal, wie ich mich fühle. Ich kann mich nicht auf ihn verlassen, ich bin nicht sicher! Und dieser Gegenstand ist ja noch viel furchtbarer, als ich dachte!“ Es ist recht wahrscheinlich, dass man auf diese Weise eine Situation erzeugt, die sich aufschaukelt, und dass die Aversion und die Angst des Pferdes sich verstärkt. Man erreicht also genau das Gegenteil von dem, wo man eigentlich hinwollte.

Was Pferde von uns erwarten – und wir von ihnen

Pferde sind hochsensible Tiere, die über eine ausgeprägte Körpersprache und eine sehr feine Wahrnehmung verfügen. Sie sind in der Lage, subtile Veränderungen in ihrer Umgebung, in der Körpersprache ihrer Artgenossen und bei uns Menschen wahrzunehmen. Diese Achtsamkeit und Sensibilität erwarten sie in gewisser Weise auch von uns, um sich sicher zu fühlen. Denn sie verlassen sich darauf, dass alle Mitglieder der Gruppe auf die Umgebung und damit auf die gemeinsame Sicherheit achten. Wenn dir die Kommunikationszeichen deines Pferdes entgehen, dann signalisierst du ihm damit, dass du wahrscheinlich auch einen im Busch lauernden Tiger übersiehst. Die Botschaft an dein Pferd ist klar: Pass besser selbst auf dich auf!

Pferde kommunizieren ständig – sei es durch ihre Ohren, ihre Mimik, ihren Blick, ihre Position in der Gruppe oder ihre Körperhaltung. Ein Pferd kann uns viel über seine Gefühle und Bedürfnisse mitteilen, wenn wir bereit sind, zuzuhören. Oftmals neigen wir aber dazu, unsere eigenen Vorstellungen und Erwartungen über die des Pferdes zu stellen. Wir haben nur begrenzt Zeit am Tag, um unser teures Hobby auszuführen, und planen unseren Alltag so, dass wir irgendwie alles unter einen Hut kriegen. Dann ist es doch wirklich blöd und äußerst frustran, wenn das Pony an dem Tag so gar nicht für Dressurarbeit auf dem Platz zu haben ist, obwohl heute extra der Reitlehrer hergekommen ist. Oder wenn das Tier nicht springen will, obwohl wir uns für ein hochkarätiges Turnier qualifiziert haben. Dann beginnen unsere Ängste, unsere Motive und unsere Ziele für uns das Ruder zu übernehmen. Wir wollen uns vielleicht nicht blamieren, wollen kein Geld verschwenden, wollen heute unbedingt den lange geplanten Ausritt mit den Mädels machen, oder wollen jetzt dringend diese Reiteinheit zur Entspannung nach der Arbeit. Und dann passiert es: Wir geben dem Pferd Anweisungen und erwarten, dass sie ausgeführt werden, ohne zu erkennen, dass unser Pferd möglicherweise Angst hat, sich mit etwas unwohl fühlt oder einfach nicht versteht, was wir von ihm wollen. Wir machen dicht, reden nur noch selbst, weil unser Ziel uns ja so wichtig ist, und hören nicht mehr zu. Und geben danach dem Pferd die Schuld, wenn es nicht klappt.

Wie man in den Wald hineinruft

Die Fähigkeit zuzuhören, ist absolut entscheidend für den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung. Wenn wir uns die Zeit nehmen, die Signale unseres Pferdes wahrzunehmen und darauf zu reagieren, zeigen wir ihm Respekt. Dies schafft eine Atmosphäre des Vertrauens. Ein Pferd, das weiß, dass seine Meinungen und Gefühle gehört werden, ist eher bereit, mit uns zusammenzuarbeiten. Weil es sich dann sicher fühlt, weil es sich gesehen fühlt. Und ich meine das ernst mit dem Respekt: Wie kann ich erwarten, dass mein Pferd mich respektiert, wenn ich ihm nicht auch Respekt zeige? Wie kann ich erwarten, dass es bereit ist mir zuzuhören, wenn ich das nicht bei ihm tue? Wie kann ich erwarten, dass mein Pferd gern mit mir zusammenarbeitet, wenn ich es nicht (aus seiner Sicht!) gut und fair behandle und für seine emotionalen Bedürfnisse da bin? Wie kann ich erwarten, dass mein Pferd nicht rüpelig ist, wenn ich es doch selbst rüpelig behandle? Pferde sind schließlich Lebewesen mit einer enormen sozialen Intelligenz. Diese Liste lässt sich beliebig weiterführen…

Hilfe, mein Pferd spinnt! Zuhören schafft Sicherheit

Vertrauen entsteht nicht über Nacht – es ist das Ergebnis konsequenter Interaktion und Kommunikation in beide Richtungen. Wenn ein Pferd spürt, dass sein Mensch wirklich zuhört und seine Bedürfnisse respektiert, wird es offener für neue Erfahrungen sein. Diese Offenheit führt zu einer stärkeren Bindung und größerem Vertrauen zwischen Mensch und Pferd. Vertrauen ist die Grundlage jeder erfolgreichen Partnerschaft, und im Fall von Mensch und Pferd ist es besonders wichtig, da wir mit einem Tier arbeiten, das von Natur aus ein Beutetier ist. Ein Pferd, das uns vertraut, wird weniger geneigt sein, in Stresssituationen kopflos zu reagieren oder zu fliehen. Es wird eher geneigt sein, sich an uns zu orientieren. Das schafft ein großes Maß an Sicherheit und minimiert das Risiko, das mit der Arbeit mit Pferden einhergeht.

Wenn wir als Menschen nur darauf fokussiert sind, Befehle zu erteilen, ignorieren wir die wertvollen Signale, die uns unser Pferd sendet. Diese Signale können uns viel über den emotionalen und physischen Zustand des Pferdes verraten, und auch, ob es unsere Aufgabe als lösbar ansieht, oder ob es damit zu großen Stress hat. Wenn Pferde dann „plötzlich“ ausrasten, durchgehen, losrennen, buckeln und was sie noch so tun können, dann ist es meistens so, dass wir Menschen einfach nicht in der Lage waren, ihre Zeichen bereits vorher zu sehen oder zu deuten. Und dann heißt es: „Mein Pferd spinnt! Es hat einfach so…“

Nein, es ist nicht leicht, alle Zeichen eines Pferdes wahrzunehmen. Sie kommunizieren als Beutetiere so leise, klitzeklein und subtil, dass es für uns als kaum wahrnehmbar erscheint. Doch wenn man ganz genau hinsieht, das Auge schult und bewusst auf ihre Signale achten lernt, kann man Pferde sehr gut lesen lernen, und ihre Reaktionen in sehr vielen Fällen vorausahnen, bevor es dazu kommt, dass sie ausflippen. Das Pferd ist nicht schuld. Es will überleben, hat sich bedroht gesehen und handelt dann, wenn von uns nichts Hilfreiches kommt, entsprechend seines Instinktes als Beutetier.

Ehrgeiz und Zeitmangel vs. Empathie und Geduld

Nicht nur Wissen und ein gutes Auge, sondern auch Empathie und Geduld spielt eine zentrale Rolle in der 2-Wege-Kommunikation. Es geht darum, sich in die Lage des Pferdes zu versetzen und seine Perspektive zu verstehen. Wenn wir empathisch sind, können wir besser nachvollziehen, warum ein Pferd auf bestimmte Weise reagiert. Das kann uns helfen, Ursachen herauszufinden und dadurch nachhaltig Probleme zu lösen. Vielleicht hat das Pferd negative Erfahrungen gemacht, hat etwas noch nicht gelernt, das wir voraussetzen, oder es fühlt sich in einer bestimmten Umgebung oder aufgrund eines Reizes überfordert und unwohl. Indem wir seine Emotionen anerkennen und darauf eingehen, zeigen wir unserem Pferd, dass wir seine Bedürfnisse und Ängste ernst nehmen. Auch damit geben wir ihm Sicherheit und stärken sein Vertrauen in uns. Wenn wir nun aber unser gestecktes Ziel unbedingt sofort erreichen wollen, mit mehr Druck reagieren oder die Grenze des Zumutbaren für unser Pferd überschreiten, verschlimmern wir seine Situation und sorgen für Angst und Vorbehalte uns gegenüber. Auf jeden Fall erhöhen wir das Stresslevel des Pferdes, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass es den Stress nicht mehr ertragen kann, und versucht, zu flüchten oder sich zu entziehen. Und wir verhindern so auch, dass unser Pferd lernen kann. Ab einem bestimmten Stresslevel ist Lernen rein neurologisch nicht mehr möglich. Wir vermiesen uns selbst die gute Arbeit mit unserem Pferd durch unseren Ehrgeiz…

Konsequentes Zuhören erfordert viel Geduld und Selbstreflexion. In unserer schnelllebigen Welt neigen wir dazu, sofortige oder zumindest baldige Ergebnisse zu erwarten. Doch echte Kommunikation und reelle Ausbildung braucht Zeit. Wir müssen bereit sein, den Prozess des Lernens und Verstehens zu akzeptieren – sowohl für uns selbst, als auch für unser Pferd. Nur Geduld ermöglicht eine nachhaltige Entwicklung unseres Pferdes, alles andere nur kurzfristige Erfolge. Die Pferde, die nur kurzfristig auf Leistung gebracht werden, sind nicht zuverlässig, und sie sind nicht sicher. Im Zweifel werden sie ihre eigenen Entscheidungen zu ihren Gunsten treffen, und sie werden sich auch nicht mehr als unbedingt erforderlich bemühen, ihren Job zu erfüllen.

Was passiert, wenn man die Angst des Pferdes übergeht und es zwingt

Früher gab es tatsächlich grausame Methoden, um Pferde in kürzester Zeit gefügig zu machen, sie wurden zum Beispiel ausgesackt – also angebunden und so lange mit einem großen Jutesack abgeklopft, bis sie aufhörten, sich aufzuregen und zu fliehen, und stattdessen still stehen blieben. Zum Anreiten bekamen sie einen Sattel angelegt, der so lange drauf blieb, bis sie aufgehört hatten, zu bocken und sich zu wehren und schließlich ebenfalls still stehenblieben. Das sind martialische Praktiken, die dem Beutetier Pferd eines zeigen: Du bist hilflos und kannst nicht entkommen. Du musst alles ertragen, womit der Mensch ankommt, ob du willst oder nicht.

Leider werden Pferde auch heute noch von vielen Menschen auf diese Weise „ausgebildet“ – aus Unwissenheit, Ignoranz oder weil man ihnen keine Zeit geben will. Das Endergebnis dieser Behandlung ist auf den ersten Blick ein Erfolg: ein ruhiges, braves Pferd. Schaut man aber genauer hin, hat man in Wirklichkeit ein Pferd bekommen, das sich in sich selbst zurückzieht, das aufhört zu kommunizieren, und das einfach alles über sich ergehen lässt. Denn das Pferd steht zwar still, aber nicht deswegen, weil es ruhig und entspannt ist. Sondern es steht still, weil Stress und Erschöpfung sein Nervensystem so überfrachtet haben, dass es sich sozusagen mental totstellt. Ein solches Pferd ist nur so lange ruhig, bis etwas kommt, vor dem es noch mehr Angst hat, und es nicht mehr ruhig ist. Ein solches Pferd ist nicht zuverlässig, und die Tiere, die auf diese Weise „ausgebildet“ wurden, sind es auch, die eines Tages scheinbar aus heiterem Himmel ausflippen und „Problemverhalten“ zeigen. Sie kommunizieren dem Menschen nicht mehr, wie es ihnen geht, und ihr Nervensystem hat geübt, sehr schnell nicht mehr ansprechbar zu sein. Glückwunsch, ein neues Problempferd wurde gemacht. Und die Pferde, die nicht ausflippen, haben unerklärliche gesundheitliche Symptome, Magengeschwüre, Verspannungen und alles, was noch auf Stress beruhen kann.

Frag dich, ob du das deinem Pferd antun willst. Selbst wenn du dein Pferd nicht aussackst, tust du etwas sehr Ähnliches, wenn du nicht auf seine Ängste eingehst und einfach weitermachst: „Jetzt hab dich nicht so! Das tut doch gar nichts.“ Dein Pferd sieht das anders, und es hat seine Gründe dafür.

Ein besserer Weg

Um das Pferd ohne Gewalt und Zwang an angstauslösende Dinge oder gruselige Situationen zu gewöhnen, gibt es verschiedene Wege, je nach Fall und Ursache. Ziel ist, dass das Pferd sich gut und sicher fühlt, und entspannt den Reiz oder die Situation aushalten kann, ohne Stress zu bekommen. Nie darf dabei die Grenze des Pferdes überschritten werden, wo es so viel Stress bekommt, dass es handeln und flüchten möchte. Dann ist es schon zu spät, und das Pferd lernt nicht mehr, es reagiert nur noch.

In vielen Situationen ist es ein guter Weg, sich vorsichtig heranzutasten. Bei der Sprühflasche z.B. ist es gut, zunächst mit Abstand neben dem Pferd zu stehen und von ihm weg zu sprühen, bis es das Geräusch auf Entfernung okay findet und ganz entspannt bleibt: Es blinzelt wie immer, atmet normal, hebt den Kopf keinen Millimeter an, schlägt nicht mit dem Schweif. Hat ein entspanntes Gesicht. Okay. Erst dann kann man sich weiter annähern. Irgendwann kann man auch immer mehr in seine Richtung sprühen, und schließlich darf auch Spray auf das Fell. Zum Schluss ganz aus der Nähe, dort, wo das Spray eigentlich hinsoll. Sagt das Pferd doch an irgendeinem Punkt: so, jetzt ist es mir zu viel (sichtbar an: Kopf geht ein paar Millimeter hoch, Blinzeln hört auf, Pferd hält die Luft an, wird fest, usw.), dann heißt es nicht weitermachen, sondern dem Pferd eine Pause geben, bis es sich komplett wieder beruhigt hat, und anschließend zurückgehen, an den Punkt, wo das Pferd noch völlig okay war mit dem Reiz. Oder sogar nochmal komplett an den Anfang. Viele Pferde können jedoch z.B. Mähnenspray ganz besonders im Genick und an ihrer Stirnlocke nicht leiden. Manche von ihnen haben grundsätzlich ein Problem, ihre Ohren oder ihr Genick oder ihr Gesicht berühren zu lassen, und akzeptieren Spray erst dann, wenn das Berührungsthema gelöst ist.

Wichtig ist: wenn es mal nicht weitergeht und das Pferd Nein sagt, solltest du statt Zwang einen alternativen Weg finden, dein Ziel zu erreichen und das Pferd zum Umdenken und Mitmachen zu bewegen. Wie? Indem du herausfindest, was das Grundproblem des Pferdes ist, und das Problem zuerst löst, oder die Aufgabe in so kleine Portiönchen aufteilst, dass das Pferd sie verarbeiten kann. Und dich dann allmählich steigern. Ja, das dauert wesentlich länger. Aber es hat mehrere Vorteile gegenüber der Aussack-Methode:

Du bekommst ein Pferd, das zuverlässig und langfristig den Reiz okay findet. Du bekommst ein Pferd, das dir vertraut, das weiterhin mit dir kommuniziert, und das irgendwann generell mutiger wird, weil es weiß, dass du auf seine Befindlichkeiten Rücksicht nimmst. Gehst du drüber hinweg, kann es sein, dass das Spray jedes einzelne Mal erneut zum Thema wird, sobald du es am Horizont auspackst, und dass ein kleiner Kampf mit dem Pferd schon am Putzplatz entbrennt. Jahrelang. Oder für immer.

Hat das Pferd kein Problem, hindert nichts es daran, das zu tun, was der Mensch gern möchte. Tut es das nicht, hat es ein Problem: Es hat Angst vor etwas, es weigert sich (aus für es selbst völlig vernünftigen Ursachen), es ist aus anderen Gründen unmotiviert, oder es versteht die Aufgabe nicht.

Pferde sind so gestrickt – sie gehen den für sie einfachsten Weg, und sie legen großen Wert auf harmonische soziale Interaktion. Wenn dein Pferd sich also den Stress antut, mit dir über irgendetwas zu streiten oder sich dir zu widersetzen, dann kannst du davon ausgehen, dass dein Pferd mit dem, was du es gerade fragst, noch viel größeren Stress hat. Ab diesem Punkt hast du dann eine Wahl, wie du deine Beziehung gestalten möchtest: Möchtest du so lange Druck ausüben bis dein Gegenüber einknickt und tut, was du verlangst? Oder möchtest du für dein Gegenüber da sein, ihm Sicherheit und Halt geben, und mit Ruhe und Geduld über seine Hürde hinweghelfen, sodass es mit dir zusammen wachsen kann? Frage dich bitte auch, welchen Effekt beides auf die Beziehung hat.

Und nein, das ist keine Vermenschlichung – alle in Gruppen lebenden Säugetiere haben die gleichen Beziehungs- und Bindungsmechanismen, neuronal betrachtet. Hunde, Affen, Zebras, Pferde, Menschen. Was das betrifft, ticken wir alle gleich, egal ob Fell, 2 oder 4 Beine, Pfoten, Hände oder Hufe dran sind.

Praktische Tipps zur 2-Wege-Kommunikation:

  1. Beobachte dein Pferd: Achte auf die Körpersprache deines Pferdes. Lerne, seine Mimik und Körpersprache zu lesen. Da gibt es kleinste Hinweise zu sehen! Diese Signale geben dir jederzeit wertvolle Hinweise auf seinen emotionalen Zustand.
  2. Frage nach: Nutze Übungen beim Führen oder Reiten und Situationen am Putzplatz, um dem Pferd die Möglichkeit zu geben, Entscheidungen zu treffen. Je mehr du die Kontrolle aufgibst (z.B. nach dem Anhalten die Zügel oder den Führstrick lang lassen, am Putzplatz satteln ohne das Pferd anzubinden), desto mehr kann das Pferd eigene Entscheidungen treffen. Damit bekommst du ungefiltert einen Eindruck davon, wie es um das Innenleben deines Pferdes bestellt ist, ob es tatsächlich ruhig und entspannt ist, oder eigentlich nervös und ungeduldig, aber durch deine Einwirkung nur davon abgehalten wird, seinen wahren Zustand zu zeigen.
  3. Sei präsent: Sei voll und ganz für dein Pferd da, ohne Ablenkungen während der Interaktionen. Deine volle Aufmerksamkeit zeigt dem Pferd, dass du auf es achtgibst, und nur mit voller Aufmerksamkeit bist du in der Lage, wirklich zuzuhören und keines der Signale zu verpassen.
  4. Wahre die Grenzen: Wenn das Pferd Nein sagt, muss es klug überzeugt werden, nicht mit mehr Druck. Die Grenze des Pferdes darf nicht einfach so überschritten werden.
  5. Verstärke positives Verhalten: Wenn dein Pferd auf deine Signale reagiert oder sich in einer gewünschten Weise verhält, belohne es sofort. Anfangs schon dann, wenn es nur in die richtige Richtung denkt! Das fördert nicht nur das Lernen, sondern zeigt deinem Pferd auch, dass du seine kleinsten Bemühungen wahrnimmst und schätzt.
  6. Reflektiere deine eigenen Emotionen: Sei dir bewusst, wie deine eigene Stimmung und Körpersprache die Kommunikation beeinflusst. Ein ruhiger und gelassener Mensch wird eher ein entspanntes Pferd haben. Hast du aber gerade Anspannung in dir, weil du frustriert bist, weil eine Übung nicht so klappt, wie du gern hättest, oder weil das Pferd zu etwas Nein sagt, was du aber unbedingt jetzt von ihm willst, dann werde dir dessen bewusst.

Die langfristigen Vorteile

Die Investition in eine echte 2-Wege-Kommunikation mit deinem Pferd zahlt sich langfristig aus. Eine starke Beziehung führt zu einer besseren Zusammenarbeit im Training, mehr Freude beim Reiten für beide Seiten und einem harmonischeren Miteinander im Alltag. Pferde, die sich gehört und respektiert fühlen, zeigen oft eine höhere Leistungsbereitschaft und haben keinen Grund für Verhaltensprobleme.

Darüber hinaus kann diese Art der Kommunikation auch dazu beitragen, das allgemeine Wohlbefinden des Pferdes zu fördern. Ein zufriedenes und selbstbewusstes Pferd ist weniger anfällig für Stress und gesundheitliche Probleme. Ein Pferd, das Freude an der Arbeit hat und sich dabei rundum sicher mit seinem Menschen fühlt, kann sein volles Potenzial entfalten und in seiner Disziplin glänzen, weil es selbst Bestleistung bringen WILL. Was möchte man bitte mehr?

Die Beziehung zwischen Mensch und Pferd ist einzigartig und erfordert ein tiefes Verständnis für unsere Vierbeiner und das, was sie bewegt. Indem wir ihnen konsequent zuhören und die Meinungen unserer Pferde ernst nehmen, schaffen wir eine vertrauensvolle Basis für unsere Partnerschaft. Die 2-Wege-Kommunikation ist nicht nur ein Werkzeug zur Verbesserung der Ausbildung – sie ist der Schlüssel zu einer erfüllenden Beziehung, die auf Respekt, Vertrauen und Empathie basiert.

In einer Welt, in der oft nur das Ergebnis zählt, dürfen wir uns daran erinnern, dass der Weg zum Ziel ebenso wichtig ist. Sonst könnte man sich ja auch einfach auf dem Gipfel des Mount Everest oder am Ende des Jakobsweges absetzen lassen… Ja, der Weg erscheint weit, und wir würden so gern schon morgen mit unserem Pferd dies und das tun, jenes machen und können. Wer kennt es nicht – Ich kenne das selbst nur zu gut. Doch ist es nicht eigentlich der Weg mit unserem Pferd, der letztendlich am meisten Freude bereitet? All die gemeisterten Etappen, die kleinen und größeren Hindernisse, die gelösten Probleme, die überwundenen Schwierigkeiten, die eingeübten Lektionen und was man unterwegs alles gemeinsam gelernt hat. Die kleinen Erfolge und Verbesserungen, von Woche zu Woche ein Stückchen weiter. Das erfordert viel Zeit, Ausdauer und Geduld – und ein gutes Stück Selbstdisziplin, was vielleicht von allem am schwersten ist. Doch es lohnt sich so sehr! Wenn wir gemeinsam den echten Dialog mit unseren Pferden suchen, dann können wir wirklich verstehen, was sie uns sagen wollen, und ihnen so nahe kommen, wie es uns sonst nicht möglich wäre. Und indem wir ihnen zuhören, lernen wir nicht nur von ihnen – sondern wir lernen vor allem über uns selbst, um wachsen zu dürfen – als Reiter und als Menschen.


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2 Antworten zu „Hilfe, mein Pferd spinnt! Der größte Irrtum der Reiterwelt“

  1. Avatar von Gabriele
    Gabriele

    Der Blog ist toll und sehr verständlich ganz besonders für Pferdeliebhaber und – besitzer.
    Bin schon gespannt auf den nächsten Blog.


    1. Avatar von Anne

      Vielen lieben Dank für dein Feedback, ich freue mich darüber, dass dir die Artikel gefallen. Der nächste kommt auch bald 😉


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